Die große Flucht

Begonnen von zirkulon, Mi, 23. Januar 2008, 13:06

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zirkulon

Titel: Die große Flucht
Herausgeber: Jürgen Thorwald
Verlag: Lizenzausgabe mit Genehmigung der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München/Zürich
Erscheinungsdatum: 1979
Seitenzahl: 512
ISBN: nicht vorhanden (Bestellnummer: 017905 <<<< alt!!)
Sonstiges:

Auszug:

Der stellvertretende Bürgermeister Anton Rieß fuhr am Nachmittag des 18. Januar mit seinem Schlitten aus der Kreisstadt in sein Dorf an der östlichen Grenze des Warthegaues zurück.
Anton Rieß stammte aus Bessarabien und war als "Volksdeutscher " angesiedelt worden, als die Russen Bessarabien besetzten. Er hatte alles zurückgelassen wofür viele Generationen gearbeitet hatten, und dafür die Zusicherung bekommen, dass er im Warthegau einen neuen Hof und eine neue Heimat erhalten sollte. Er war mit seiner Familie durch verschiedene Lager in Deutschland gewandert. Vieles hatte anders ausgesehen, als er es sich vorgestellt hatte. Aber endlich hatten sie doch in dem Land Einzug gehalten, dass ihre neue Heimat werden sollte. Und sie hatten einen Hof bekommen, der bis dahin einem Polen gehört hatte,. Das hatte ihnen nicht gefallen, denn sie waren ehrliche Menschen und wussten um das Verhängnis des ungerechten Gutes. Aber vielleicht war es auch nicht unrecht, denn die Polen hatten diesen Hof im Jahre 1924 einem Deutschen abgepresst. Sicherlich war es gerechter zugegangen als bei ihrem Nachbarn Johann Kröner. Der hatte einen Hof übernehmen sollen, auf dem ein Kommando gerade den polnischen Bauern erschoss, weil er Waffen besessen hatte. Kröner hatte nicht einziehen wollen. Aber er hatte einziehen müssen, denn wohin sollte er sich sonst wenden. Sie hätten ihm keinen anderen Hof gegeben, sondern ihn auf der Straße stehen lassen.
Die Kommissionen waren hart und siegestrunken. Und Kröner war bloß ein "Araber ", der keine Heimat mehr hatte und eine neue suchte für seine Frau und die Kinder.
Und die Jahre vergingen, und man vergaß. Man vergaß die Geister der früheren Besitzer, die in das Land abgeschoben worden waren, dass man jetzt "Generalgouvernement" nannte, oder als Knechte auf anderen Höfen zurückgeblieben waren. Die neuen Bauern hatten schwer gearbeitet, und wenn Unrecht geschehen war, so hatten sie nach ihrer Überzeugung auf jeden Fall das Land besser bebaut, als es zuvor bebaut worden war. Und was würde in fünf oder zehn Jahren sein? Es war so viele Land da um neue Höfe zu bauen und neue Dörfer, dass auch Polen wieder Bauern werden konnten.
Anton Rieß wusste, dass er den Anordnungen zuwider dachte, wenn er hoffte, dass auch die Polen wieder Bauern werden könnten. Aber er dachte nicht allein so. Er hatte sich auch nicht gedrängt, seinen Posten zu übernehmen. Aber die Jungen waren alle fort. Er war ein alter Mann, den man dazu bestimmt hatte.
Rieß zog die Fellemütze tiefer über die Ohren und schlug die Arme übereinander, während er die Zügel zwischen die Knie presste. 15° Kälte hatte er auf dem Thermometer vor der Kreisleitung abgelesen. Er trieb die Pferde ein wenig an, denn er wollte in zehn Minuten zuhause sein. In der Tasche seines wattierten Überrockes trug er das Notizbuch, in das alles eingetragen war, was der Kreisleiter gesagt hatte und was er seinen Leuten im Dorf weitergeben sollte. "Die Front schlägt sich hervorragend", hieß es da, "die Anfangserfolge der Russen sind bereits ins Stocken gekommen. Eine deutsche Panzerarmee befindet sich im Anmarsch.... Der Führer selbst hat eingegriffen und erklärt, dass er lieber vorzeitig seine neuen Waffen, die er eigentlich noch zurückhalten möchte, einsetzen werde, bevor er zugebe, dass auch nur ein Teil des Warthegaues verloren geht. Die Bevölkerung kann unbesorgt sein.... Falls irgend etwas Unvorhergesehenes eintreten sollte, womit jedoch nicht zu rechnen ist, wird die Bevölkerung so früh verständigt, dass sie in Ruhe ihr Dorf räumen kann."
Das hatte Rieß in sein Buch eingetragen, und es nun an Stelle des Ortsgruppenleiters und Bürgermeisters, der mit dem Volksturm in der Kreisstadt geblieben war und auf die Gewehre wartete, bekannt zu geben.
Als er an einem verschneiten Waldstück vorüber fuhr, kamen ihm Holzgaslastwagen entgegen, die mit Soldaten behangen waren. Ein Wagen schleppte ein kleines Geschützt hinter sich her. Anton Rieß wunderte sich darüber, dass ein Geschütz zurückgefahren wurde. Aber es gab sicherlich Gründe dafür.
Er erreichte die kleine Anhöhe, von der er das Dorf sehen konnte, und fuhr die letzten 100 Meter die Straße hinab.
Die Leute warteten schon in der Stube seines Hauses auf ihn. Es waren ältere Männer, ein paar einbeinige und einarmige Kriegsbeschädigte. Sonst waren es Frauen. Es waren die Abgesandten der Deutschen, die immer hier gelebt und in der polnischen Zeit häufig einen harten Stand gehabt hatten, wenn Sie und Ihre Kinder Polen werden sollten. In der Mehrzahl aber waren es Leute aus Galizien und aus Bessarabien.
Sie waren unruhig. Aber Anton Rieß zog sein Notizbuch hervor und sagte ihnen alles, was ihm der Kreisamtsleiter gesagt hatte. Und er sagte am Schluss:" Der Kreisamtsleiter lässt euch alle grüßen und sagen, dass unsere Armee im Sommer wieder vor Moskau stehen wird und dass ein jeder über die Sorgen lachen wird, die er jetzt vielleicht gehabt hat." Sie hatten alle aufmerksam zugehört, und ihre Gesichter glätteten sich. Dann setzten sie sich ihre Mützen auf, banden sich die Kopftücher um und staksten durch den Schnee nach Hause. Sie sahen bei ein paar Polen schwaches Licht und wussten, dass auch diese sich Gedanken machten, weil sie ja nicht wussten, was auf sie wartete, wenn die Bolschewisten kommen würden. Der alte Rieß aber saß noch eine Weile an seinem Tisch. Die Frau hockte am Ofen und sah vor sich hin. "Ist das nun alles ganz richtig, was du gesagt hast? " fragte sie.
" Es ist richtig", sagte Anton Rieß, " ich habe ja alles genau aufgeschrieben, damit ich nichts vergesse."
" Dann will ich nochmals schlafen gehen" sagte die Frau, stand auf und ging.
Anton Rieß nickte, aber dann nahm er den Überrock und ging noch einmal auf die Straße. Sein Hof lag ganz am Ende des Dorfes nach Osten zu, und er ging ein Stück auf die Straße hinaus, eigentlich ohne bestimmte Absicht, nur weil ein Gefühl ihm sagte, dass es vielleicht gut sei, wenn er noch einmal nach Osten schnupperte.
Es war jetzt ganz dunkel. Aber der Schnee leuchtete frisch und weiß. Er stand eine Weile am Dorfausgang und wollte gerade umkehren, als er nicht weit von sich im Straßengraben im Schnee ein Geräusch hörte. Als er darauf zuging, sah er dort einen Menschen liegen. Es war ein junger Mann in Uniform, ein deutscher Offizier, der gestürzt war. Aber er war nicht im Schnee ausgeglitten, sondern war einfach zusammengebrochen.
Anton Rieß war trotz seines Alters ein starker Mann; er hob den Offizier auf, bis dieser sich taumelnd aufrecht hielt, und Anton Rieß führte ihn langsam über die Straße zu seinem Haus. In der Stube setzte er ihn auf die Bank. Aber der Offizier legte sofort die Arme auf den Tisch und ließ den Kopf drauf sinken. Fast schien es, als weine er in sich hinein. Rieß wusste zuerst gar nicht, was er mit dem Fremden anfangen sollte. Dann aber holte er eine Flasche mit Branntwein, hob den Kopf des Offiziers und fragte, woher er komme: " Von der Front? "
Der Offizier sah ihn aus unnatürlich großen Augen an. "Front? " sagte er mit einer Stimme, die ihm nur unwillig gehorchte. " Front" sagte er ,, das war einmal. Ich bin der Einzige von meiner Kompanie; alle anderen sind tot oder verstreut, und das ganze Regiment ist zersprengt."
Anton Rieß hielt in der Bewegung inne, mit der Branntwein in ein Glas hatte einschenken wollen. "Sie haben uns gejagt wie die Hasen." murmelte der Offizier. " Was dem Trommelfeuer noch entwischt ist, das haben sie zusammengeschossen wie die Hasen. Mit Panzerkanonen auf einzelne Leute. Ich bin ihnen in einem Wald entwischt..."
" Und die Riegelstellung? " fragte Anton Rieß.
" Stellungen," stammelte der Offizier, " die habt ihr umsonst gegraben. Da ist niemand drin. Da fährt der Iwan mit einem >Stalin< entlang, und dann sind die Gräben glatt. In ein paar Stunden ist der Iwan hier, und ich muss weiter."
Aber während er noch sprach, fiel sein Kopf wiederum auf den Tisch.
Anton Rieß sah auf den Offizier hinab. Weil er ein ehrlicher Mann war, der keine Lügen kannte, begriff er nicht, was hier geschah und was ihm gesagt wurde.
Aber er setzte die Flasche und das Glas ab und dachte, dass etwas geschehen müsse. Er setzte sich die Mütze auf und ging bis zum Haus des Ortsgruppenleiters. Er klopfte lange und rief und klopfte, und dann machte ihm die polnischen Magd auf, und er sagte, dass er telefonieren müssen. Er rief die Kreisstadt an, und es dauerte lange, weil alles seine Ordnung haben musste und man nach einer Kennnummer fragte. Aber dann klingelte es drüben, und es meldete sich ein Kreisamtsleiter, der Nachtdienst hatte und mit ungeduldiger Stimme fragte, was Anton Rieß so Wichtiges mitzuteilen habe.
Anton Rieß berichtete, was er eben erlebt hatte. Und er sagte, er möchte sich vergewissern, ob es stimmen könne, was der Offizier sage. Und er müsse wissen, was dann geschehen solle.
Während er sprach, glaubte er auf der Dorfstraße Geräusche zu hören, die ihm fremd waren. Aber er achtete nicht genug darauf. Er horchte gespannt ins Telefon und auf die noch ungeduldigere Stimme am anderen Ende der Leitung. Die Stimme fragte ihn, ob es ihm nicht genüge, was er am Nachmittag gehört habe. Es trieben sich viele Feiglinge und Drückeberger herum, die unwahre Gerüchte ausstreuten. Zu diesen gehöre der Offizier. Anton Rieß hafte dafür, dass der Mann festgehalten und der Polizei übergeben werde.
Anton Rieß wollte noch etwas erwidern. Er wollte sagen, der Offizier sehe nicht wie ein Deserteur aus. Während er noch die Worte, die er sagen wollte, in seinem Kopf zusammen suchte, meinte er wieder, ungewohnte Geräusche zu hören. Er begann zu sprechen. Aber dann waren die fremden Geräusche ganz nah, und die Tür hinter ihm sprang auf. Er blickte sich um und sah zwei erdbraune Riesen mit Fellmützen und Maschinenpistolen.
Er wusste sofort, wer sie waren, denn solche Gestalten hatte er gesehen, als die Russen nach Bessarabien gekommen waren. Aber weil die Lüge nicht in seine kleine saubere Welt hinein gehörte, verstand er überhaupt nicht, was geschah.
Es blieb ihm auch keine Zeit, seinen Kopf damit zu zerquälen, denn es knallte ganz leicht. Dann stürzte Anton Rieß neben dem Telefon zu Boden.
Das Telefon aber war an der Wand fest geschraubt, und der Hörer hing lang herab und baumelte über dem Körper von Anton Rieß. Der Kreisamtsleiter in der Kreisstadt hätte den Schuss hören können. Aber er hörte ihn nicht. Denn er wollte keine Zeit für überflüssige Gespräche mit Leuten verschwenden, die auf jeden Unfug hereinfielen. Er hatte eingehängt und spielte mit zwei Volkstumsmännern Karten......

Quelle: siehe oben

Gruß
Michael
Bei allen von mir erstellten Beiträgen berufe ich mich auf :
Artikel 5, GG der BRD.
Artikel 11, Charta der Grundrechte der EU.
Artikel 19, Menschenrechtscharta der UN.

Was Du nicht willst dass man Dir tu,
das füg´ auch keinem Andern zu