Das Leiden anderer betrachten

Begonnen von Impuls, Di, 06. Juni 2006, 21:14

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Impuls

Ein sehr Interessantes Buch.


Das Leiden anderer betrachten

Einen gerade eintretenden Tod festhalten und für alle Zeit bewahren – das können nur Kameras. Und Bilder aus dem Feld, die den Augenblick des Todes (oder den Moment unmittelbar davor) zeigen, gehören zu den berühmtesten und besonders häufig reproduzierten Kriegsfotos. Es besteht kein Zweifel an der Authentizität dessen, was sich auf dem Bild ereignet, das Eddie Adams im Februar 1968 aufgenommen hat: der Chef der südvietnamesischen Polizei, Brigadegeneral Nguyen Ngoc Loan, erschießt auf einer Straße in Saigon einen der Zugehörigkeit zum Vietcong verdächtigten Mann. Und doch ist dieses Foto gestellt – von General Loan selbst. Er führte den Gefangenen, dem die Hände hinter dem Rücken gefesselt waren, auf die Straße, wo sich einige Journalisten versammelt hatten; er hätte ihn dort nicht kurzerhand exekutiert, wenn die Journalisten nicht anwesend gewesen wären und zugeschaut hätten. Loan stand neben seinem Gefangenen, so daß sein eigenes Profil und das Gesicht des Gefangenen für die Kameras hinter ihm sichtbar waren, während er aus kürzester Entfernung schoß. Adams' Bild zeigt den Augenblick, in dem die Kugel soeben abgefeuert worden ist; der tote Mann mit dem verzerrten Gesicht hat noch nicht zu fallen begonnen. Was indessen den Betrachter, was diese spezielle Betrachterin angeht – nun, auch nach all den Jahren, seit dieses Bild gemacht wurde, kann man die Gesichter darauf lange ansehen und vermag doch das Rätselhafte – und Anstößige – solcher Komplizenschaft beim Zuschauen nicht zu ergründen.
Noch bestürzender ist es, wenn man Gelegenheit bekommt, Menschen zu betrachten, die wissen, daß sie zum Sterben verurteilt sind: etwa die Sammlung von sechstausend Fotos, die zwischen 1975 und 1979 in einem geheimen Gefängnis in einer ehemaligen Schule in Tuol Sleng, einem Vorort von Phnom Penh, aufgenommen wurden. Hier sind unter dem Vorwurf, sie seien »Intellektuelle« oder »Konterrevolutionäre«, mehr als vierzehntausend Kambodschaner ermordet worden – und die Dokumentation dieser Greuel verdanken wir den Archivaren der Roten Khmer, die jedes ihrer Opfer, kurz bevor sie es hinrichteten, vor einer Kamera Platz nehmen ließen.* Eine Auswahl dieser Bilder in einem Buch mit dem Titel The Killing Fields macht es möglich, den Blick dieser in die Kamera – also auf uns – starrenden Gesichter Jahrzehnte später zu erwidern. Der Soldat der Spanischen Republik ist soeben gestorben, wenn wir dem glauben dürfen, was in bezug auf das Bild behauptet wird, das Robert Capa aus einiger Entfernung aufgenommen hat: wir sehen darauf nicht mehr als eine verwischte Gestalt, Körper und Kopf, und eine Kraft, die den Mann im Fallen nach hinten schleudert. Die kambodschanischen Frauen und Männer aller Altersgruppen, auch viele Kinder, die aus geringem Abstand meist in Halbfigur fotografiert wurden, sehen – wie Marsyas auf Tizians Bild »Die Schindung des Marsyas«, wo das Messer Apolls auf ewig im Begriff ist, niederzufahren – für immer ihrem Tod entgegen, für immer stehen sie kurz vor ihrer Ermordung, und für immer geschieht ihnen Unrecht. Der Betrachter befindet sich ihnen gegenüber in der gleichen Position wie der Henkersknecht hinter der Kamera – eine grauenvolle Erfahrung. Der Name dieses Gefängnisfotografen ist bekannt – Nhem Ein –, ihn kann man nennen. Diejenigen, die er fotografiert hat, mit ihren wie betäubt wirkenden Mienen, ihren ausgemergelten Oberkörpern, das Schildchen mit der Gefangenennummer am Hemd, bleiben Masse: anonyme Opfer.
Und selbst wenn man sie mit ihren Namen benannt hätte, wären sie »uns« doch wahrscheinlich unbekannt. Virginia Woolfs Bemerkung, auf einem der Fotos, die man ihr geschickt hatte, sei die Leiche eines Mannes oder einer Frau so verstümmelt, daß sie auch der Körper eines toten Schweines sein könnte, will deutlich machen: Krieg ist so mörderisch, daß er auch das zerstört, was Menschen als einzelne oder überhaupt als Menschen erkennbar macht. So sieht der Krieg natürlich nur für jemanden aus, der ihn aus der Ferne, als Bild sieht.
Opfer, trauernde Verwandte, Nachrichtenkonsumenten – sie alle haben ihre spezifische Nähe oder Distanz zum Krieg. Die unverhohlensten Darstellungen aus dem Krieg oder von Katastrophenopfern gelten Leuten, die besonders fremdartig wirken und daher mit der größten Wahrscheinlichkeit unbekannt sind. Wenn uns die abgebildeten Menschen näher sind, wird vom Fotografen mehr Diskretion erwartet.
Als die Fotografien von Gardner und O'Sullivan im Oktober 1862, einen Monat nach der Schlacht von Antietam, in Bradys Galerie in Manhattan ausgestellt wurden, schrieb die New York Times:

Den Lebenden, die sich auf dem Broadway drängen, mögen die Toten von Antietam ziemlich gleichgültig sein, aber wir glauben, sie würden nicht so sorglos und nicht ganz so munter diese belebte Straße entlangschlendern, wenn man dort direkt vom Schlachtfeld einige bluttriefende Leichen niedergelegt hätte. Da gäbe es ein eifriges Röckeraffen und vorsichtiges Herumstaksen...

Auch wenn der Journalist hier das alte Klagelied anstimmt, daß diejenigen, die vom Krieg verschont bleiben, auf die Leiden außerhalb ihres Gesichtskreises nur stumpf und gleichgültig reagieren, bleiben seine Gefühle gegenüber der Unmittelbarkeit des fotografischen Bildes doch zwiespältig.

Selbst in unseren Träumen suchen uns die Toten des Schlachtfeldes nur sehr selten heim. Wir sehen die Liste der Gefallenen beim Frühstück in der Morgenzeitung und verbannen sie mit dem Kaffee aus unseren Gedanken. Mr. Brady jedoch hat etwas getan, womit er uns die furchtbare Wirklichkeit und den Ernst des Krieges vor Augen führt. Zwar hat er keine Leichen mitgebracht und sie in unsere Vorgärten und auf unsere Straßen gelegt, aber er hat etwas ganz Ähnliches getan... Diese Bilder sind von einer erschreckenden Deutlichkeit. Mit Hilfe eines Vergrößerungsglases kann man die Gesichtszüge der Erschlagenen genau erkennen. Wir würden wohl kaum in der Galerie zugegen sein wollen, wenn eine der Frauen, die sich über die Bilder beugen, in den starren, leblosen Umrissen der Körper, die vor den klaffenden Schützengräben liegen, womöglich den Gatten, den Sohn oder den Bruder erkennt.

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In die Bewunderung mischt sich Mißbilligung wegen des Schmerzes, den die Bilder den weiblichen Angehörigen der Toten bereiten könnten. Die Kamera bringt den Betrachter oder die Betrachterin nah heran – zu nah; nimmt er oder sie ein Vergrößerungsglas zur Hand – denn hier geht es um die doppelte Wirkung zweier Linsen –, so liefert die »erschreckende Deutlichkeit« der Bilder überflüssige, anstößige Informationen. Aber während der Journalist der Times den unerträglichen Realismus des Bildes tadelt, kann er selbst doch dem melodramatischen Effekt bloßer Wörter (»bluttriefende Leichen« – »klaffende Schützengräben«) nicht widerstehen.
Im Zeitalter der Kameras soll die Wirklichkeit neuen Anforderungen genügen. Es kann sein, daß das Wirkliche nicht erschreckend genug ist und daher noch betont werden muß; oder es muß nachgestellt werden, damit es überzeugender wirkt. So zeigt der erste jemals von einer Schlacht gedrehte Wochenschaufilm nicht die wirkliche Erstürmung der Höhen von San Juan auf Kuba – eine bekannte Episode aus dem Spanisch-Amerikanischen Krieg von 1898 –, sondern einen Sturmangriff, den Oberst Theodore Roosevelt und seine Kavallerie-Einheit, die Rough Riders, kurz nach den eigentlichen Ereignissen für die Vitagraph-Kameraleute nachstellten, weil man zu der Auffassung gelangt war, dem wirklichen Angriff, der ebenfalls gefilmt worden war, habe es an Dramatik gefehlt. Unter Umständen sind die Bilder auch allzu schrecklich und müssen mit Rücksicht auf Anstand oder Patriotismus unterdrückt werden – etwa Bilder, die eigene Tote ohne die gebotene Teilverhüllung zeigen. Schließlich ist die Zurschaustellung der Toten etwas, das der Feind tut. Im Burenkrieg (1899–1902) glaubten die Buren nach ihrem Sieg bei Spion Kop im Januar 1900, die Verbreitung eines grauenvollen Fotos, auf dem tote britische Soldaten zu sehen waren, könnte die Moral der eigenen Truppe weiter festigen. Es wurde zehn Tage nach der Schlacht, in der die Briten dreizehnhundert Soldaten verloren hatten, von einem unbekannten Fotografen der Buren aufgenommen und zeigt einen langen, nicht sehr tiefen Schützengraben voller Leichen. Besonders aggressiv wirkt dieses Bild durch das Fehlen aller landschaftlichen Umgebung. Das Durcheinander der Leichen im Graben füllt die gesamte Bildfläche. Die britische Empörung über diese neueste Schandtat der Buren war groß, auch wenn sie nur in steifen Worten zum Ausdruck kam: derartige Bilder zu veröffentlichen, so erklärte der Amateur Photographer, »dient keinem nützlichen Zweck und appelliert allein an das Morbide im Menschen«.
Zensur hat es immer gegeben, aber lange Zeit erfolgte sie nur sporadisch, blieb dem Gutdünken von Generälen und Staatschefs überlassen. Erstmals wurde die Fotoberichterstattung von der Front im Ersten Weltkrieg systematisch reguliert; sowohl das deutsche wie das französische Oberkommando ließen nur wenige ausgewählte Militärfotografen in die Nähe der Kampfzone. (Die Zensur des britischen Generalstabs war etwas flexibler.) Aber es dauerte weitere fünfzig Jahre und bedurfte des Nachlassens der Zensuranstrengungen während des ersten, kontinuierlich durch das Fernsehen vermittelten Krieges, bis erkennbar wurde, wie schockierende Fotos auf die Öffentlichkeit in der Heimat wirken können. In der Vietnam-Ära war Kriegsfotografie fast immer zugleich auch Kritik am Krieg. Das mußte Konsequenzen haben: den Mainstream-Medien geht es nicht darum, bei den Leuten Unbehagen an jenen Kämpfen zu wecken, auf die sie eingestimmt werden sollen, und Propaganda gegen den Krieg wollen sie erst recht nicht verbreiten.
Seither hat die Zensur – sowohl die weitestgehende, die Selbstzensur, als auch die vom Militär verhängte Zensur – zahlreiche einflußreiche Befürworter gefunden. Zu Beginn des Falklandkrieges im April 1982 ließ die Regierung Margaret Thatchers nur zwei Fotojournalisten zu – unter denen, die abgelehnt wurden, war auch der bedeutende Kriegsfotograf Don McCullin –, und vor der Rückeroberung der Inseln im Mai gelangten nur drei Sendungen mit Filmmaterial nach London. Seit dem Krimkrieg hatte es keine so weitgehende Einschränkung der Berichterstattung über eine britische Militäroperation mehr gegeben. Den zuständigen amerikanischen Behörden fiel es schwerer, eine ähnlich strenge Kontrolle bei ihren eigenen Auslandsabenteuern zu gewährleisten. Das amerikanische Militär verlegte sich im Golfkrieg von 1991 auf die Verbreitung von Bildern aus dem Technokrieg: der Himmel über den Sterbenden, erfüllt von den Leuchtspuren der Raketen und Granaten – Bilder, die die absolute militärische Überlegenheit Amerikas gegenüber dem Feind veranschaulichten. Was die amerikanischen Fernsehzuschauer nicht zu sehen bekamen, waren von NBC beschaffte (und dann nicht ausgestrahlte) Aufnahmen, die zeigten, was diese Überlegenheit anrichten konnte: das Schicksal Tausender irakischer Wehrpflichtiger, die gegen Ende des Kriegs, am 27. Februar 1991, aus Kuwait City flohen und auf ihrem Weg nach Norden, in Konvois oder zu Fuß, auf der Straße nach Basra mit Sprengbomben, Napalm, radioaktiver DU-Munition (depleted uranium – abgereichertes Uran) und Streubomben belegt wurden – ein Massaker, das einer der amerikanischen Offiziere damals als »Truthahn-Schießen« bezeichnete.

Susan Sontag

152 Seiten, Hardcover
ISBN 3-446-20396-6

€ 15,90 (D)
€ 16,40 (A)
SFR 29,00

zirkulon

Grad bestellt. Mal sehen sollte die Tage eintreffen. Wird das nächste sein was ich lesen werde.

Gibt´s gebraucht übrigens ab 6,00 (T)Euro plus Versand

Gruß
Michael
Bei allen von mir erstellten Beiträgen berufe ich mich auf :
Artikel 5, GG der BRD.
Artikel 11, Charta der Grundrechte der EU.
Artikel 19, Menschenrechtscharta der UN.

Was Du nicht willst dass man Dir tu,
das füg´ auch keinem Andern zu