Als die US-Truppen im April 1945 in Nürnberg einmarschierten, verkrochen sich W. Maile und seine Familie in einem Luftschutzkeller. Vier Tage ertrugen sie den Kugelhagel über ihren Köpfen, bis die Wehrmacht endlich kapitulierte. Zur Überraschung waren die GIs freundlich - und verschenkten Kaugummi.
Die Amerikaner rückten immer näher an Nürnberg heran. Aschaffenburg hatte kapituliert und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis auch Nürnberg erobert werden würde. Mein Bruder, meine Schwester und ich waren wieder zu Hause. Gegen Mitte April dachten wir ernsthaft daran, unser Haus zu verlassen und uns in der Umgebung des Vororts Laufamholz eine Felsenhöhle als bombensicheren Unterschlupf zu suchen.
Vater verwarf jedoch diese Lösung und wir beschlossen, im Privatbunker neben unserem Haus zu kampieren. Das Nachbarhaus war total abgebrannt. Die Bewohner waren entweder evakuiert worden oder geflüchtet. Niemand nutzte den Luftschutzkeller mehr. Dann kam der 17. April 1945, Mutters Geburtstag. Plötzlich heulten die Sirenen im minutenlangen Dauerton. Das war kein Fliegeralarm mehr, sondern Panzeralarm!
Wir verließen fluchtartig unser Haus und gingen in den Bunker - voller Angst und Ungewissheit. Nach einiger Zeit gesellte sich auch noch der Bahnhofsvorstand mit seiner Frau zu uns. Die amerikanischen Truppen hatten Nürnberg umzingelt: Etwa tausend Panzer, Geschütze und eine ganze Division standen vor den Toren der Stadt. Sie drangen von Norden und Osten vor und eroberten einige Vororte, darunter auch nach kurzen heftigen Kämpfen Laufamholz.
Angst vor aufgeschlitzten Bäuchen
Das Rasseln der Panzerketten, die stundenlang auf der Autobahn dröhnten, war fast unerträglich geworden. Plötzlich hörten wir einen Panzer und einige Jeeps in unserer Straße vorfahren. Wir wurden aus dem Bunker geholt. Mehrere Amerikaner in voller Kampfmontur standen vor uns. Mein Vater musste mit ihnen ins Haus gehen. Sie nahmen ihm seine Orden aus dem Ersten Weltkrieg ab und zerbrachen die Läufe von zwei Luftdruckgewehren, die uns Jungen gehörten.
Als ich aus dem Bunker wankte, stand plötzlich ein schwarzer GI vor mir. Ich erschrak furchtbar, denn in der Nazi-Hochschule hatte man uns beigebracht, dass die "Neger" den kleinen Kindern und Jugendlichen den Bauch aufschlitzen und das Herz herausreißen. Und nun dachte ich, uns würde dasselbe Schicksal blühen.
Aber das Gegenteil war der Fall, der Schwarze lächelte uns an und schenkte jedem einen Kaugummi! Uns fiel ein Stein vom Herzen!
Zwischen den Fronten
Die Amerikaner benahmen sich human und richteten im Haus kaum Schaden an. Dann kam eine größere Kampfeinheit mit Panzern und Artilleriegeschützen und grub sich etwa 200 Meter östlich unseres Hauses am Waldrand ein. Eine missliche Situation, denn 500 Meter in westlicher Richtung stand eine Deutsche Flakbatterie mit etwa zwölf Geschützen Kaliber 8,8 cm. Sie wurden hauptsächlich zur Flugzeugabwehr eingesetzt, dienten aber im Endkampf auch als Waffen gegen Panzer.
Hier amerikanische Artillerie, dort deutsche Geschütze - und wir waren mittendrin. Hätten sie aufeinander geschossen, wäre Laufamholz unweigerlich total zerstört worden, wobei die "Amis" natürlich auch noch auf ihre unbegrenzte Luftüberlegenheit zurückgegriffen hätten.
Dann das große Glück! Die Flakbesatzung, meistens einige ältere Soldaten und sonst junge Volkssturmsoldaten kaum älter als 16 Jahre, flüchteten - sprengten vorher jedoch noch die Geschützverschlüsse.
Das war unsere Rettung, denn es gab keine Gegenwehr mehr. Die amerikanische Artillerie schoss über unser Haus Richtung Stadtzentrum und wir verkrochen uns wieder im Bunker. Plötzlich machte das Gerücht die Runde, dass es in der verlassenen Flakstellung noch reichlich Lebensmittel und Schuhe gab.
Hakenkreuz gesprengt
Meine Schwester und mein Bruder rannten noch während des amerikanischen Beschusses unter höchster Lebensgefahr zur Flakstellung und kamen beladen mit köstlichen Lebensmitteln wie Hartwürsten, Speck, Konserven und mit Wehrmachtsstiefeln zurück. Währenddessen saß ich mit meinem Vater und meiner Mutter nur noch zitternd und heulend im Bunker.
Die Wehrmacht verteidigte die Stadt der Reichsparteitage, die nicht mehr als ein Schutthaufen war, noch vier Tage lang. Der Stadtkommandant Karl Holz hatte Hitler in seinem letzten Funkspruch nach Berlin versprochen, "die deutscheste aller Städte" bis zum letzten Atemzuge zu verteidigen. Er fiel dann als einer der Letzten im Kampf im Polizeihauptquartier am 20. April 1945.
An diesem Tag, dem Geburtstag Hitlers, sprengten die Amerikaner das riesige Hakenkreuz auf der Ehrentribüne des Zeppelinfeldes in Nürnberg. Dieses Bild ging um die ganze Welt! Für uns war damit der Wahn dieses Weltkriegs auch symbolisch beendet. Möge Gott verhüten, dass jemals wieder so eine schreckliche Zeit über Deutschland und die Welt hereinbricht!
Quelle:Der Spiegel März 2010